Bericht von der Erwerbslosentagung

Erwerbslosentagung „Teilhabe und Selbstwirksamkeit“
4. bis 6. Juli 2022
Evangelische Akademie Bad Boll

Die Erwerbslosentagung 2022 „Teilhabe und Selbstwirksamkeit“ startete bewusst mit einem gemeinsamen Mittagessen, damit alle Gäste der Tagung sich nach ihren Bedürfnissen einfinden konnten. Neue Tagungsgäste konnten erste Kontakte knüpfen und Gäste, die sich aus früheren Tagungen oder aus Arbeitslosenzentren bereits kannten, waren erfreut, sich nach den Zeiten erschwerter persönlicher Begegnungsmöglichkeiten infolge der Corona-Beschränkungen wieder zu treffen.

Das Plenum startete am ersten Tag mit einem Beatimpuls und trug dazu bei, dass die versammelten Tagungsgäste in einem energiegeladenen Aufmerksamkeitslevel präsent waren. Der Tagungsleiter Karl-Ulrich Gscheidle begrüßte im Namen der Kooperationspartner und skizzierte den Ablauf der dreitägigen Veranstaltung. Danach würdigte Ministerialrat Knut Bergmann aus der Sicht des Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus die jährlich durchgeführten Erwerbslosentagungen und die wichtige Arbeit der LAGALO-Arbeitslosenzentren im Land. Er ermutigte, sich an die örtlichen Landtagsabgeordneten zu wenden, um für die Weiterführung des Landesarbeitsmarktprogramms und die weitere finanzielle Ausstattung der Landesförderung für die hauptamtliche Arbeit der Sozialberatung im Doppelhaushalt 2023/2024 zu werben. Herr Bergmann konnte zahlreiche Wortmeldungen und erste Redebeiträge von Tagungsgästen aufgreifen und beantworten. Er bedankte sich bei den von Langzeitarbeitslosigkeit betroffenen Menschen für ihr politisches Engagement und dankte auch den kirchlichen und gewerkschaftlichen Kooperationspartnern der Erwerbslosentagungen für ihre sozialpolitische Anwaltschaft.

Den Zusammenhang von Erwerbsarbeit und Alterssicherung in Baden-Württemberg analysierte Jendrik Scholz, Referent beim DGB Baden-Württemberg im ersten Vortrag. Er sprach u.a. von den Problemen aus prekären Arbeitsverhältnissen und kritisierte die kontinuierliche Abnahme der Tarifbindung mit der Folge ungenügender Löhne. Er kritisierte die Zunahme der Soloselbständigkeit und der Teilzeitbeschäftigung, sowie das erneute Anwachsen von Minijobs und Leiharbeit. Alle diese Formen prekärer Arbeit verstärkten das Anwachsen von späterer Altersarmut infolge ungenügender Renten, besonders bei Frauen. Daher steige auch die Anzahl der Menschen, die auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind. Zu beklagen sei auch eine Absenkung der durchschnittlichen Zugangsrenten im Vergleich zu den Bestandsrenten um 61 €. Nur 12,5 % der Altersrenten für Frauen seien höher als 1400 €. 14,2 % erhielten 1100 € bis 1400 € und 20,8 % müssten sich mit 800 € bis 1100 € begnügen. 24,1 % kämen sogar nur auf 500 € bis 800 € und weitere 28,4 % auf weniger als 500 € Altersrente und damit in den Bereich der Grundsicherung im Alter, trotz eines oft kompletten Berufslebens. Es klaffe seit Ende der 90er Jahre eine deutliche Lücke zwischen dem Bruttoinlandsprodukt und den Zahlbeträgen im Rentenzugang. Aus Sicht der Gewerkschaften sei es ein Mangel, dass es immer weniger eine lebensstandardsichernde Rente gäbe. Hier brauche es politische Reformen, um Altersarmut insbesondere unter berufstätigen Frauen zurückzudrängen. Die anschließenden Wortmeldungen und Diskussionen zeigten an zahlreichen persönlichen Beispielen den Zusammenhang zwischen jahrelanger Erwerbslosigkeit und Altersarmut auf.

Nach dem Nachmittagskaffee und einem erneuten klanglichen Beatimpuls sprach Michael Stiefel als Referent für Beteiligung von Menschen mit Armutserfahrungen von der Diakonie Deutschland über Möglichkeiten der Netzwerkarbeit und Selbstorganisation von Menschen in armutsbedrohten Lebenslagen.
Sein Vortrag trug den Titel „Vom Dabeisein zur Wirksamkeit – Beteiligung als Chance und Aufgabe“. Er wies auf digitale Tools hin, die zahlreiche neue Wege der Vernetzung böten. Exemplarisch erläuterte er die Hintergründe von #IchBinArmutsbetroffen und zeigte, wie Betroffene von ihrer Armut sprechen lernen. Ein Beispiel der Selbstorganisation sei #Armutserfahrung. Es brauche für diese Formen politischer Teilhabe verbesserte Zugänge der Betroffenen zu digitalen Endgeräten und eine verstärkte Qualifizierung im Umgang mit digitalen Tools. Bildung sei eine wesentliche Voraussetzung für diese modernen Ausdrucksformen politischer Selbstwirksamkeit. Es gehe um mehr und gerechtere Teilhabe am sozialen und politischen Leben.

Er bündelte seine Überlegungen in den Stichworten: Wissen nützen, zivilgesellschaftliche Unruhe stiften durch öffentliche Aktionen, politische Mehrheiten organisieren und ein solidarisches Zusammenhalten untereinander. Viele Möglichkeiten ergäben sich auch durch Kontakte mit Parlamentariern, damit Gesetzgebungsprozesse im Sinne armutsbedrohter Bevölkerungsgruppen beeinflusst werden können. Da Herr Stiefel als persönlichen Erfahrungshintergrund die Wohnungslosenszene im Blick hatte, war es in der anschließenden Diskussion umso wichtiger, die Schnittstellen zur Erwerbslosenszene aufzuzeigen.

Nach dem Abendessen wurde im großen Saal der Akademie zum Mitmachkonzert mit Tobias Mrzyk eingeladen. Dem Klangkünstler gelang es, durch die Töne seiner Handpan eine fast andächtige Atmosphäre zu schaffen. Danach verteilte er verschiedene Instrumente wie Klangstäbe und Handtrommeln und teilte die Großgruppe in vier kleinere Klanggruppen auf. Er erklärte, wie ein vierer Takt für Samba-Klänge funktioniert.

In der Folge wurde probiert und es ergaben sich sehr interessante Klangteppiche, die er teilweise auch mit elektronischen Sounds ergänzte. Den Teilnehmenden machte dieses Mitmachkonzert viel Freude und es kam ein beachtlicher Groove zustande. Viele merkten auch, dass derartiges Musizieren das Einhalten von Regeln voraussetzt und Improvisationen kein wildes unabgestimmtes Drauflosklopfen ist, sondern das aufeinander Hören und das Reagieren auf Einsätze bedeutet.

Der Morgenimpuls am zweiten Tag fand bei schönem Wetter im Freien statt und viele lernten zum ersten Mal gemeinsame Gebetsgesten kennen. Nach dem gemeinsamen Frühstück wurde auf der Wiese der Akademie durch den Künstler Wolfram Isele in die Kunstwerkstatt eingeführt. Herr Isele hatte drei etwa fünf Meter lange und Ein-Meter-Fünfzig hohe Papierbahnen mitgebracht, die in der ersten Phase mit verschiedenen Farbklecksen grundiert wurden. Danach setzte die Gruppe sich an verschiedene Tische und Herr Isele leitete zu ersten Übungen im Zeichnen von Körpern an: Kreise, Linien, Wellen. Dann gab es die Aufgabe, dass sich jeweils zwei Personen zusammenfinden, um sich gegenseitig zu porträtieren. Die entstandenen Porträts wurden dann mit einem Cut (Messer) an gewissen Stellen ausgeschnitten, damit im Anschluss dort Farbe auf einen Hintergrund aufgetragen werden kann. Das Ziel war die Herstellung von Schablonen-Porträts, die am Nachmittag mit Farbe auf den drei Papierbahnen aufgesprüht wurden. Es entstanden farbige Porträts der Teilnehmenden. Die drei Plakate erhielten ihre Titel „Solidarität“, „Unruhe“, „Recht“, mit beweglichen Schablonen-Lettern in verschiedenen Farben. Alle scharten sich gegen Abend um die entstandenen Kunstwerke und bewunderten stolz die Porträts. Die Kunstaktion vermittelte tatsächlich viel Begeisterung. Möglicherweise kann auch eine Ausstellung der Kunstwerke im Willy-Bleicher-Haus des DGB in Stuttgart erfolgen, wenn die Finanzierung dies zulässt.

Das von der Bundesregierung angekündigte Bürgergeld, das die bisherigen Hartz-IV-Regelungen ersetzen soll, wurde beim Abendmeeting von Frieder Claus, Referent beim Kreisdiakonieverband Esslingen, aufgrund der Hinweise aus dem Koalitionsvertrag und von Forderungen der Wohlfahrtsverbände und der Betroffenenbewegung besprochen. Herr Claus gliederte seine Analyse in drei Abschnitte: Erstens warf er die Frage auf, inwiefern das Bürgergeld armutsfest sein kann, wenn der Regelsatz nicht erhöht wird. Dies sei angesichts der anwachsenden Inflation umso dringender. Beim Wohngeld könnte es zu Verbesserungen kommen, durch Berücksichtigung angemessener Wohnungskosten. Schwierig sei der Umgang mit Schulden bei den Jobcentern. Das Ziel sei, einen Absturz in die Verarmung zu vermeiden. Kaum politisch umsetzbar sei eine Verbesserung bei der Anrechnung von Rentenpunkten. Zweitens könnte das Bürgergeld sozialer werden, weil Kinder aus dem System herausgenommen würden und es zu einer eigenen Kinder-Grundsicherung kommen soll. Vielleicht käme es auch zu einer Verlängerung der Laufzeit beim ALG I und zu einer besseren Zusammenarbeit zwischen Jobcenter und Betroffenen. Drittens könnten Kürzungen des Förderbudgets zurückgenommen werden. Nach wie vor sei es gut, lieber Arbeit als Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Arbeit müsse sich lohnen. Dafür brauche es Anreize. Ob es zu verbesserten Löhnen im Niedriglohnsektor komme, das sei eher fraglich. Hoffnungsvoll sei es, wenn es zu einer verbesserten Personalausstattung in den Jobcentern käme. In der anschließenden Diskussion wurde eine deutliche Anhebung der Regelsätze bei der Grundsicherung gefordert. Die Grundsicherung müsse die Existenz verlässlich sichern. Der Tag klang beim „Come together“ auf der Terrasse des Café Heuss aus.

Der Morgenimpuls im Freien eröffnete den dritten Tag mit einem Gesten-Gebet in die vier Himmelsrichtungen. Nach dem gemeinsamen Frühstück stellten vier engagierte Betroffene die Interessensgemeinschaft Langzeitarbeitsloser (IGELA) vor. Diese Form der politischen Arbeit sei Lobby-Arbeit bei sozialpolitisch Verantwortlichen und nicht Einflussnahme auf die Öffentlichkeit durch Demos und ähnliche Aktionen. Das Ziel sei, bei Behörden, Landespolitik und durch Medienkontakte zur tatsächlichen Lage langzeitarbeitsloser Menschen zu informieren.

Das Podiumsgespräch „Chancen für Teilhabe und Selbstwirksamkeit“ führte Moderator Karl-Ulrich Gscheidle mit OKR’in Prof. Dr. Annette Noller, Vorstandsvorsitzende Diakonisches Werk Württemberg e.V. und Sprecherin der AG ARBEIT in Baden-Württemberg, Ralf Nuglisch, Leitung Bereich Arbeit und Qualifizierung, DER PARITÄTISCHE, Baden-Württemberg, Felix Herkens, MdL, Bündnis 90/Die Grünen, Pforzheim, Manuel Hailfinger, MdL, CDU, Hechingen-Münsingen. Entschuldigen musste sich Florian Wahl, MdL, SPD, Böblingen, wegen einer kurzfristig einberufenen SPD Konferenz. In der Anmoderation wurde darauf hingewiesen, dass die Arbeitslosigkeit in Baden-Württemberg im Juni angestiegen sei, weil Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine erstmals in die Grundsicherung des SGB II aufgenommen worden sind. Der Anteil langzeitarbeitsloser Menschen liege in Baden-Württemberg bei knapp 35 % in absoluten Zahlen bei 70451 Personen. Die ersten Fragen richteten sich an Frau Dr. Noller und an Herrn Nuglisch und erkundeten, inwiefern die Partizipation von Betroffenen für ihre sozialpolitische Arbeit wichtig sei. Die Antwort war: Die Mitwirkung der Betroffenen auf Augenhöhe sei unerlässlich, denn ohne Vertrauen und Zusammenarbeit funktioniere die Arbeit der Wohlfahrtsverbände nicht. Die Politiker wurden gefragt, ob das Landesarbeitsmarktprogramm weiter aktiv vorangebracht werden soll. Sie bejahten dies und sprachen an, dass die Fraktionen mittendrin in der Beratung des Doppelhaushalts 2023/2024 seien. Für das angekündigte Bürgergeld liege leider noch kein Gesetzentwurf vor. Herr Nuglisch erläuterte u.a. den wichtigen Punkt eines verbindlichen Coachings für Betroffene. Frau Dr. Noller ging auf das Onlinezugangsgesetz ein, mit dem Bund und Länder sämtliche Leistungen der Verwaltungen bis Ende 2022 auch digital anbieten wollen. Bei den Statements aus dem Plenum wurde der Mangel an verfügbaren Endgeräten und die noch mangelnde Qualifizierung im Umgang mit digitalen Tools betont.

Im Anschluss wurden Ideen für die Erwerbslosentagung 2023 auf Kärtchen gesammelt und es wurde das Feedback für die aktuelle Tagung eingeholt. Hervorgehoben wurde von dem Großteil der Rückmeldungen die gute Mischung aus sozialpolitischen Informationen und Debatten, sowie der Diskussion von brennenden Fragen aus dem Alltag erwerbsloser Menschen, mit dem Zusammenführen der Teilnehmenden durch die künstlerischen Mitmachangebote. Der freundliche Dank galt der Tagungsleitung, Vorbereitungsteam, Geldgebern und Kooperationspartnern.

Karl-Ulrich Gscheidle
Wirtschafts- und Sozialpfarrer